Text von Horst Klöver:
No vertical limit
Krishna Lahoti lässt alle Zügel der Perspektive fahren: Seine vertikalen, 360 Grad abzirkelnden Panoramen setzen Himmel und Erde in Bewegung, um einen ungeahnten Seheindruck zu bescheren. Zum besseren Verständnis muss man von der rein zentralperspektivischen Raumwahrnehmung Abstand nehmen. Eher geeignet ist die Vorstellung des Raumes als eine den Betrachter umgebende Tonne, die geöffnet und auf eine plane Fläche, die Bildfläche, abgewickelt wird. So erklären sich die auf- und abwallenden Verzerrungen, die altehrwürdiger Ornamentik neues pulsierendes Leben einhauchen.
Nicht nur klassische Innenräume regen Lahoti zu seinen waghalsigen Aufnahmen an. Sein Bild vom Eiffelturm gehört wohl zu den ungewöhnlichsten, die je davon gemacht wurden. Die Surrealisten der dreißiger Jahre hätten ihn sicher geliebt für seinen Mut, dem Betrachter so den Kopf zu verdrehen. Ist es nicht eher der Elefant von Celebes, der, ganz frei nach Max Ernst, gravitätisch über Paris hinwegschreitet?
Krishna Lahoti verwendet auch den Begriff „Topologische Fotografie“ für seine Arbeitsweise. Auf einem kleinen Ausflug in die Begrifflichkeit der zeitgenössischen Philosophie trifft man Begriffe wie „topological turn“ oder „spatial turn“. Beide Begriffe umschreiben die Hinwendung zur verstärkten Wahrnehmung des Raumes durch die Kulturwissenschaften. Die Werke des Südwestdeutschen mit dem klingenden Namen könnten der grauen Theorie als farbenprächtige Illustration dienen, selten erfährt und hinterfragt man den Bildraum stärker als in seinen vertikalen Panoramen.
Text von Martin Mezger:
Zum Aldi/Lidl Projekt von Krishna Lahoti
Gefördert vom Kulturwerk der VG BILD-KUNST, Bonn
„Das Schönste an Rom ist der McDonalds.
Das Schönste an Paris ist der McDonalds.
Das Schönste an Tokio ist der McDonalds.
Moskau und Peking haben noch nichts Schönes.“
Andy Warhol
Das Wesen der Corporate Identity (CI) besteht in einer Verschränkung des Verwechselbaren und des Unverwechselbaren. Möglichst unverwechselbar ist zunächst die Identitätsmarke selbst: Graphik und Leitfarben des CI-Logos, Warendesign oder Warenpräsentation, architektonisches Erscheinungsbild der Firmenniederlassungen oder Filialen. Sinn und Zweck der CI zielt jedoch nicht aufs Unikat, sondern auf die massenhafte Reproduktion. CI wird einer Vielzahl von verwechselbaren Produkten (im weitesten Sinne des Wortes) eingeschrieben. Die massengefertigten Waren sehen in jedem Winkel der Welt so gleich aus wie die Filialen von Banken, Autohäusern, Restaurantketten, Supermärkten und so weiter. CI strebt nach dem Ideal einer absoluten Verwechselbarkeit des Unverwechselbaren: Keine Filiale ist von der anderen zu unterscheiden, alle bezeugen sie dieselbe CI.
Sofern sich solche Einheit in der Vielheit durch Architektur bekundet, nimmt sie die Form der Gleichgültigkeit gegenüber urbanen, baulichen, historischen und landschaftlichen Kontexten an. Anders formuliert: Die Macht des Kapitals äußert sich als Nivellierung, die kapitalfremde Differenzen tilgt. Hinter den CI-Logos – auch und gerade den architektonischen – steckt die Logik einer Verwandlung der Welt in Warenform. Bei den Kunden allerdings weckt CI im erfolgreichsten Fall ein globales „Heimatgefühl“ und bezeugt damit die Ambivalenz jeglicher Nivellierung. Die Identität der Norm-Formen schlägt psychologisch um in eine Identifizierung des Konsumenten mit einer Vertrautheit, die ihm noch in der „Fremde“ – zum Beispiel am Urlaubsort – eine Art „Geborgenheit“ gewährt.
Andy Warhol hat in dem oben zitierten Gedicht den Sachverhalt in ironischer Affirmation pointiert (anachronistisch daran ist lediglich der politisch-historische Anteil: auch Moskau und Peking haben inzwischen „etwas Schönes“). Der Fotograf Krishna Lahoti folgt dem umgekehrten Weg einer kritischen Veranschaulichung: Am Beispiel der CI-Architektur von Aldi- und Lidl-Märkten, die stellvertretend für andere Handelsketten stehen, rekonstruiert er die Gewalt der Gleichmacherei gegen die Unverwechselbarkeit der räumlichen Umgebung. Die Lidl-Filiale im Scharnhauser Park (Ostfildern) ist dank einer bemerkenswerten Paradoxie der Ausgangspunkt von Lahotis europaweit angelegtem Projekt: Ausnahmsweise musste sich hier die CI-Architektur den ambitionierteren Vorgaben der kommunalen Planung beugen (die allerdings ihre eigene Konsequenz im weiteren Baufortgang des neuen Stadtteils nicht durchzuhalten vermochte).
Das rare Exempel eines Lidl-Markts, der sich in die Organik eines urbanen Entwurfs fügt, wird in Lahotis Serie zum Kontrapunkt für den Normalfall: oftmals in fensterloser Architektur hermetisch gegen die Umgebung abgeschottete Bau-Klötze, die sich gezielt als Fremdkörper in die Räume stellen. Rund 150 solcher Supermärkte hat Lahoti bislang fotografiert. Um die Zäsur im räumlichen Kontext deutlicher sichtbar zu machen, bedient er sich eines foto- technischen Mittels und befolgt zwei wahrnehmungspsychologische Vorsichtsmaßnahmen: Die Bilder sind in 360-Grad-Fotografie aufgenommen, und diese Panorama-Fotos hat der Fotograf nur von Märkten erstellt, die in einem markanten Umfeld stehen, denn beim Lidl oder Aldi auf einer x-beliebigen grünen Wiese schwindet die Sichtbarkeit der architektonischen Gewalt. Außerdem hat Lahoti die Märkte außerhalb der Öffnungszeiten fotografiert, weil der Kundenverkehr einen Anschein von Normalität erzeugen und damit den ungeschönten Blick auf die krude Architektur trüben würde.
Lahotis Aldi/Lidl-Projekt führt im Schaffen des Fotografen zwei Stränge fort. Zum einen die Auseinandersetzung mit der Panorama-Architekturfotografie: Die 360-Grad-Technik hat Lahoti nicht nur auf die traditionelle Horizontale angewandt, sondern auch auf die Vertikale, um Architekturen als skulpturale Solitäre hervortreten zu lassen. Wenn er jetzt zum horizontalen Panorama zurückkehrt, ist dies einer veränderten Zielvorstellung geschuldet: dem Aufzeigen des Raumumfelds von Architektur.
Zum anderen ist gerade die Räumlichkeit im Sinne einer Vermessung der Welt der zweite Ansatzpunkt des Fotografen. In einem früheren Projekt hat er ein Entfernungsgitter über die Landkarte gelegt, eine vorgegebene Strecke in exakt gleiche Abstände unterteilt und die so ermittelten Punkte fotografiert. Dadurch wurde die konkrete Motivwahl von einer mathematischen Abstraktion ohne Rücksicht auf die optische Attraktivität oder Bedeutsamkeit gesteuert. In seinem Aldi/Lidl-Projekt geht Lahoti gewissermaßen umgekehrt vor: Eine CI- Architektur, die von der Optik der Umgebung abstrahiert und damit selbst zur Abstraktion wird, spürt der Fotograf in konkreten Kontexten auf. Solcher Perspektivenwechsel birgt nicht zuletzt einen politischen Akzent: Führten in jenem älteren Projekt die nivellierenden Raster einer Vermessung der Welt zur Vielfalt des Sichtbaren, klagt nun die beschädigte Vielfalt ihr Recht gegen die Vermessenheit architektonisch-kapitalistischer Nivellierung ein.
Martin Mezger
